Liebe Christine Eichel, könnten Sie sich bitte kurz vorstellen?

Gern. Geboren wurde ich 1959 in einem kleinen niedersächsischen Dorf. Bereits in der Kindheit kristallisierten sich meine beiden großen Leidenschaften heraus, Lesen und Klavierspielen. Wurde ich gefragt, was denn mein Traumberuf sei, lautete die milde belächelte Antwort: Schriftstellerin.

Nach dem Abitur studierte ich Philosophie, Literaturwissenschaft und Musikwissenschaft an der Universität Hamburg und wurde mit einer Dissertation über Theodor W. Adorno promoviert. In den folgenden Jahren übernahm ich diverse Lehraufträge an der Universität, parallel zog es mich in die Welt des TV-Journalismus. Als Autorin und Regisseurin machte ich unter anderem Filme über Hans Magnus Enzensberger, Neil Postman, Vivienne Westwood – und Barpianisten.

Als ich mit meinem Wunschkind schwanger war, schrieb ich meinen ersten Roman. 1998 erschien “Gefecht in fünf Gängen”, ein satirisch angehauchtes Schelmenstück über die Hamburger Kulturschickeria, das sofort ein großer Erfolg wurde. Weitere Romane und Sachbücher folgten, auch als ich Anfang der 2000er nach Berlin zog, wo ich eine dreijährige Gastprofessur an der Universität der Künste wahrnahm und danach sieben Jahre lang das Kulturressort “Salon” des Politischen Magazins Cicero leitete. Heute lebe ich als freie Autorin. Und damit meinen Traumberuf.

Um was geht es in Ihrem Buch CLARA?

Es ist die Geschichte einer einzigartigen Selbstermächtigung. Was Clara Schumann geleistet hat, künstlerisch wie emanzipatorisch, ist absolut erstaunlich für das Neunzehnte Jahrhundert und weit darüber hinaus. Mit eiserner Willensstärke sowie dem festen Glauben an ihre Berufung schaffte sie das schier Unmögliche: sich einen festen Platz in einer männlich dominierten Welt zu erobern. Dass sie oft aneckte, kümmerte sie nicht. Unbeirrbar ging sie ihren Weg. Das macht sie zu einem frühen Role Model weiblicher Selbstbestimmung.

Völlig zu Unrecht werden übrigens weibliche Protagonistinnen der Kulturgeschichte zumeist noch als Randfiguren behandelt. Doch der Blick wandelt sich gerade. Deshalb ist es ungeheuer aufschlussreich, Clara Schumann neu zu entdecken: als Vorkämpferin, die keineswegs im Schatten ihres genialischen Mannes Robert Schumann stand, sondern ein Star ihrer Zeit war, hochgeachtet als Pianistin, Komponistin, Konzertveranstalterin, Herausgeberin. Wie sie dafür gesellschaftliche Vorurteile überwand und sich nicht zuletzt von der Bevormundung durch ihren Ehemann befreite, ist spannend wie ein Krimi.

Welche Voraussetzungen brachte sie dafür mit?

Vom Vater wurde Clara nicht etwa zur künftigen Ehefrau und Mutter erzogen, sondern zur freien Künstlerin. Sie genoss - um mit einem heutigen Terminus zu sprechen – eine genderneutrale Erziehung. Alles, was man kleinen Mädchen beibrachte, um sie auf das traditionelle Frauenbild einzuschwören, hielt der Vater von ihr fern. Clara lernte weder kochen, backen noch sticken, sie hatte auch keine Puppen zum Spielen. Wer solchen Beschäftigungen nachgehe, sei für eine Virtuosenkarriere verdorben, so Friedrich Wiecks Credo.

Natürlich handelte er keineswegs uneigennützig. Seit Clara neunjährig auf der Konzertbühne debütiert hatte, verdiente ihr Vater glänzend an dem Wunderkind, das dann im Teenageralter den Sprung auf die großen europäischen Bühnen schaffte. Der erbarmungslose Drill, der diesem kometenhaften Aufstieg voranging, hätte Clara brechen können. Stattdessen entwickelte sie aus ihrem Können und der Bestätigung durchs Publikum heraus eine ungeheure Stärke, auch eine bemerkenswerte Resilienz. Sie konnte hervorragend mit Stress umgehen, verkraftete diverse Schicksalsschläge, stand trotz wiederkehrender Erkrankungen bis ins hohe Alter auf der Bühne. Ihren letzten öffentlichen Auftritt absolvierte sie mit 71 Jahren.

Was war der Schlüssel ihres Erfolgs?

Früh lernte Clara, dass nicht nur Leistung zählt. Das Publikum will unterhalten werden, es braucht gute Geschichten, attraktive Bilder. Was wir heute Selbstvermarktung nennen, beherrschte sie so virtuos wie die achtundachtzig Tasten. Nicht von ungefähr nenne ich Clara Schumann die Lady Gaga des Neunzehnten Jahrhunderts: Sie erfand sich gewissermaßen selbst und behielt immer die Kontrolle über ihr Image.

Clara überließ nichts dem Zufall. Als junge Frau trat sie in dekolletierten weißen Seidenkleidern auf, um ihre zarte Statur zu betonen. Als Witwe hüllte sie sich in nonnenhaftes Schwarz, sodass ihr die Herzen des gerührten Publikums schon zuflogen, bevor sie überhaupt eine Note gespielt hatte. Um bekannter zu werden, gab sie regelmäßig sorgfältig inszenierte Portraits in Auftrag, die als Lithographien unter die Leute gebracht wurden – eine frühe Form der visuellen Selbstdarstellung, wie sie heute in Social Media selbstverständlich ist. Damit die vermeintliche große Love Story mit Robert im Gedächtnis blieb, gab sie später die Jugendbriefe ihres verstorbenen Mannes heraus, wobei sie darauf achtete, nur vorteilhafte Passagen zu veröffentlichen. Auch als Herausgeberin von Roberts Werken fungierte sie als Gralshüterin: Späte Kompositionen, bei denen sie fürchtete, man könne daraus Roberts geistige Umnachtung heraushören, hielt sie zurück oder verbrannte sie sogar.   

Es wurden bereits einige Bücher über Clara Schumann geschrieben – was ist das Neue an Ihrem Buch?

Viele Biografien kommen bewundernd und verklärend daher, wie auf Knien getippt. Vor allem der Mythos einer großen herzwärmenden Liebesgeschichte wiederholt sich permanent: Clara und Robert, das Traumpaar der Romantik. Ein äußerst publikumswirksames Narrativ, das Clara selbst gezielt einsetzte. Recherchiert man sorgfältig in Quellen wie Tagebüchern und Briefen, kommt man zu ganz anderen Resultaten: Da ist eine toxische Beziehung zu besichtigen.

Auch viele weitere Aspekte fielen bislang im Namen schwärmerischer Verehrung eher unter den Tisch. Etwa, welche Rolle Clara bei Roberts Einweisung in eine Irrenanstalt spielte, wie raffiniert sie den jungen Brahms für ihre Zwecke einspannte, oder dass sie keineswegs die bedingungslos liebende Übermutter war. Die queeren Aspekte ihres Lebens wurden ebenfalls kaum aufgearbeitet. Clara litt darunter, dass Robert homophile Freundschaften pflegte und ihre Tochter Eugenie später relativ offen lesbisch lebte. Ärgerlich ist hingegen, dass ihr viele – zumeist männliche – Biografen unterstellen, sie sei nur eine Gelegenheitskomponistin gewesen. Darin schwingt immer noch eine Geringschätzung weiblichen musikalischen Schaffens mit. Hier war es an der Zeit, mit einigen misogynen Vorurteilen aufzuräumen.

Bleiben wir noch kurz bei Clara und Robert. Worin bestanden die Schwierigkeiten dieser Verbindung?

Vielen heutigen LeserInnen wird die Problematik eines beziehungsunfähigen Mannes bekannt sein. Für Clara war es unerfreulicher Alltag. Robert entzog sich ihr, verschanzte sich im Arbeitszimmer, ging lieber ins Wirtshaus oder verkroch sich im Bett, statt Zeit mit seiner Frau zu verbringen. Hinzu kamen sein starker Alkoholismus und seine extremen Stimmungsschwankungen. Beide, Clara wie Robert, hatten massive seelische Defizite und erhofften vergeblich Rettung voneinander. Auch die herbeigesehnte künstlerische Symbiose entpuppte sich rasch als Illusion. Clara wurde immer mehr in die Rolle des dienstbaren Geists gedrängt, weil Robert den Genius des Mannes über die vermeintlich nachrangigen Talente der Frau stellte.

Bereits in der Verlobungszeit war ein wahrer Geschlechterkrieg entbrannt, weil Robert auf die Erfüllung klassischer weiblicher Stereotype pochte, während Clara erbittert um ihre Eigenständigkeit rang. Auch dass beide in dieser Zeit offen fremdflirteten und sich von ihrer Verbindung vor allem gegenseitige Karrierevorteile versprachen, wird meist verschwiegen. Anfangs zerbrach Clara fast an der emotionalen Abhängigkeit von ihrem psychisch labilen Ehemann. Zunehmend distanzierte sie sich dann aber von Robert, machte “ihr eigenes Ding“, überließ ihn seinem Schicksal. Darüber wurde bisher nicht so gern geschrieben, weil es nicht ins Bild der liebenden Gattin passte.

Warum ist Clara Schumann auch heute noch eine inspirierende Frau - obwohl sie bereits 1819 geboren wurde?

Weil sie so konsequent für ihre eigenen Belange kämpfte. Erfolgsgeschichten verlaufen so gut wie nie linear. Auch Clara musste Krisen durchstehen, Selbstzweifel, Rückschläge. Wie damit umgehen? Ihre Kraftquellen waren die Musik, der Applaus, der Erfolg. Daraus bezog sie die sogenannte “Selbstwirksamkeitserwartung“, ein Begriff des Soziologen Albert Bandura. Darunter versteht man die Überzeugung: Ich habe schon so viel erreicht, also werde ich jedes weitere Hindernis überwinden, wenn ich mich nur genügend ins Zeug lege. Neudeutsch formuliert: Never give up.

Sehr inspirierend ist auch die Tatsache, dass sie sich nicht darum scherte, was die Leute über sie redeten. Clara wusste, dass sie Regeln brach. Beispielsweise reiste sie auf ihren Tourneen oft allein, ohne Anstandswauwau in Gestalt eines Mannes oder einer Freundin. Das war shocking, sowas tat man nicht als anständige Frau. Sie wusste auch, dass sie als Self made women gehörig provozierte. Man wollte Frauen schwach, anschmiegsam, hilfsbedürftig. Wurde sie dann kritisiert, zuckte sie nur mit den Achseln: Was soll’s, ich verfolge meine eigenen Ziele und scheue mich nicht, meine Stärke zu zeigen. Das macht sie zum Vorbild für Frauen, denen man ja auch heute noch zuweilen die Flügel stutzen will.

Ist Clara auch inspirierend, wenn man nach einem Vorbild fürs eigene berufliche Fortkommen sucht?

Unbedingt. In dieser Hinsicht kann man viel von ihr lernen. Neben der planvollen Imagebildung verfolgte Clara zwei Strategien, die auch heute noch von großer Wichtigkeit sind, gerade für Frauen: Sie stellte Synergien mit erfolgreichen Kollegen her, indem sie sich mit ihnen zusammentat, und knüpfte exzellente Unterstützernetzwerke. Einzelkämpfertum ist selten von Erfolg gekrönt, Kooperationen sind wesentlich vielversprechender. Clara hatte das früh verstanden. Wo sie auch gastierte, überall suchte und fand sie Menschen, die ihr weiterhalfen.

Ihre Verbindungen reichten europaweit, bis nach Russland und England. Dafür hielt sie unermüdlich Kontakt, schrieb Tausende Briefe. Der Lohn der Mühe waren Brückenköpfe in allen wichtigen Städten, die sie immer weiterausbaute. In London beispielsweise vermittelte ihr ein befreundeter Komponist erste Auftrittsmöglichkeiten. Am Ende spielte sie regelmäßig in der riesigen St. Jame‘s Hall, vor zweitausend begeisterten Zuhörern.

Würden Sie Clara Schumann als einen modernen Frauentypus bezeichnen?

Absolut, ja. Das beginnt bereits bei der ungewöhnlichen Asymmetrie ihrer Ehe. Nicht etwa Robert war der bewunderte Star seiner Zeit, nein, es war Clara. Als Komponist blieb ihr Mann zeitlebens eher erfolglos, erst in den letzten Lebensjahren konnte er finanziell einigermaßen für die Familie sorgen. Dass seine Frau das Geld nach Hause brachte, bedeutete eine narzisstische Kränkung, auch einen sozialen Gesichtsverlust und führte zu tiefen Konflikten in der Ehe. Selbst heute empfindet man diese Umkehrung traditioneller Rollenaufteilungen noch als Ausnahme.

Modern ist auch die Art und Weise, wie Clara ihren Beruf auffasste: als Berufung und Geschäftsmodell. Geschickt handelte sie Honorare aus, bestand auf hochwertigen Instrumenten, kümmerte sich selbst um Reiseorganisation und Unterbringung. Immer häufiger fungierte sie auch als Konzertveranstalterin, die ihre eigenen Programme konzipierte. Das war völlig neu: Selbst ist die Frau!

Eine besondere Facette ihrer Modernität ist das Downdating. Roberts psychische Erkrankung war bereits weit fortgeschritten, als der gerade mal zwanzigjährige Johannes Brahms in Claras Leben schneite. Kurz darauf unternahm Robert einen Selbstmordversuch und Johannes – zog bei Clara ein! Fortan war der vierzehn Jahre jüngere Komponist ihr Lebensgefährte, musikalischer Sparringspartner und Babysitter ihrer Kinder, wenn sie auf Tournee ging. Ein Hausmann also. Auch knisternde Erotik fehlte nicht bei dieser aparten Liaison. Die Gerüchteküche kochte, Clara war es egal. Später, die beiden lebten längst getrennt, versuchte Brahms mehrfach, sie zu einer Lebensgemeinschaft zu überreden. Doch Clara lehnte ab. Sie wollte lieber Single bleiben und ein ungebundenes Leben führen, als sich eventuell wieder einer starken männlichen Schulter beugen zu müssen. Das könnte man ebenfalls eine moderne Haltung nennen, oder?

Clara Schumann hatte mit Mariane Bargiel eine Pianistin und Sängerin als Mutter. Inwiefern hat Mariane Bargiel das Leben ihrer Tochter beeinflusst?

Anfangs durch ihre unglückliche Ehe, vorrangig aber durch Abwesenheit. Clara war vier, als sich die Eltern trennten. Dem ging ein jahrelanger Eheclinch voraus, mit Tobsuchtsanfällen des Vaters und bühnenreifen Weinkrämpfen der Mutter. Mariane wollte weiterhin als Sängerin auftreten, ihr Mann verbot es. Den Kindern schenkte man wenig Aufmerksamkeit. Clara wurde in die Obhut einer Magd übergeben, letztlich sich selbst überlassen. Sie reagierte auf ihre Weise: Bis zum fünften Lebensjahr blieb sie weitgehend stumm. Heute spricht man von selektivem Mutismus, einem seelischen Abwehrmechanismus.

Als Clara an ihrem fünften Geburtstag aufgrund der sächsischen Scheidungsgesetze dem Vater in Leipzig übergeben wurde, zog die Mutter wenig später mit ihrem neuen Mann, einem heißblütigen Geiger, nach Berlin. Aus dem Auge, aus dem Sinn. Mariane Bargiel besuchte ihre Tochter kaum, schickte ab und an Briefe, das war’s. Eine furchtbare Verlusterfahrung für das Kind, das beim emotional unzugänglichen Vater aufwuchs. Und ein lebenslanges Trauma. Nähe, Wärme, gefühlvolle familiäre Bindungen kannte Clara nicht. All das erhoffte sie sich von Robert – und geriet dummerweise an einen Mann, der ihr dies genauso wenig geben konnte. Wenn Clara etwas von ihrer Mutter gelernt hat, dann: Lebe lieber unkonventionell, als in einer desaströsen Ehe zu erstarren.

Was können Sie uns über den Vater, Friedrich Wieck, erzählen?

Friedrich Wieck war in vielfacher Hinsicht gescheitert: als Theologe, Hauslehrer, Komponist. Seine Berufung fand er als Klavierlehrer und Klavierhändler. Vor allem aber hatte er einen Plan: sein eigenes klavierpädagogisches System zu einem Erfolgsmodell zu machen. Dafür bedurfte es eines lebenden Beweises. Und da er der Überzeugung war, nur Mädchen ließen sich uneingeschränkt formen, sollte Clara – nicht etwa einer ihrer Brüder - sein Vorzeigeobjekt werden. Dafür bedurfte es eiserner Disziplin. Claras Agenda war streng durchgetaktet. Eine Schule besuchte sie nur ein Jahr lang, sie durfte nicht mit anderen Kindern spielen, nur Klavierüben und körperertüchtigende Spaziergänge mit ihrem Vater unternehmen.

Wieck war ein Mann der rigiden Methoden - und der tiefschwarzen Pädagogik. In einem Tagebuch, das er für seine Tochter führte (!), hielt er ihre vermeintlichen Verfehlungen fest, beschimpfte sie als störrisch, liederlich, pflichtvergessen. Nach einem ihrer ersten umjubelten Auftritte stand sie weinend neben dem Flügel, weil sie meinte, es reiche immer noch nicht. Auch später zeigte sich Wieck selten zufrieden. Aber so richtig auf Zinne war er, als sich die Liaison mit Robert anbahnte. Niemand durfte ihm sein Geschöpf, sein Goldeselchen wegnehmen. So ging die Sache vor Gericht, wo er Robert nach Kräften verleumdete. Übrigens sollten sich alle seine Anschuldigungen später bewahrheiten, von der mangelnden sozialen Kompatibilität Roberts über seine Trunksucht bis hin zur finanziellen Erfolglosigkeit.

Bis zu welchem Grad hat Claras Liebe zu Robert Schumann dazu beigetragen, dass Clara Schumann eine eigenständige, vom Einfluss des Vaters befreite Persönlichkeit wurde?

Clara war elf und Robert zwanzig, als er in ihr Leben galoppierte wie der sprichwörtliche Held in der schimmernden Rüstung. Was sie kannte, war väterlicher Drill. Was sie an dem neuen Klavierschüler ihres Vaters faszinierte? Alles. Schön war er, temperamentvoll, übermütig und voller Geschichten. Außerdem lebte er seine Emotionen filterlos aus, bei den gemeinsam verplauderten Abenden ebenso wie am Klavier. Das war neu für Clara, die unentwegt zur Selbstdisziplin angehalten wurde, auch zur Unterdrückung ihrer Gefühle.

Robert zeigte ihr, dass die väterliche Autorität nicht unumstößlich war. Er dachte anders, lebte anders, machte sich über die spießigen Ansichten Friedrich Wiecks lustig. Durch den jungen Komponisten wurde das väterliche System für Clara fundamental in Frage gestellt. Und zwar in einem Alter, in dem ohnehin pubertäre Abgrenzung auf ihrer Agenda stand. Robert öffnete ihr die Augen für anspruchsvolle Musik, für hohe Literatur, auch für rebellische kulturelle Entwicklungen. Er war ihre Exitstrategie aus dem engen Korsett, das der Vater für sie geschmiedet hatte. Und sie ergriff die Chance, indem sie Roberts Drängen nachgab, für die Heiratserlaubnis sogar einen Prozess gegen Friedrich Wieck anzustrengen.

Wie würden Sie Clara Schumanns Rolle als Ehefrau beschreiben?

Die ersten Ehejahre markieren einen Tiefpunkt in Claras Leben. Robert zuliebe ließ sie sich zum Hausmütterchen domestizieren, trat kaum noch auf, war demoralisiert, verfiel in tiefe Melancholie. Nach den aufsehenerregenden juristischen Querelen schien die Ehe gleichsam zum Gelingen verurteilt. Deshalb gab sie sich alle Mühe, Roberts und damit die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen. Keine leichte Aufgabe. Anders als zu jener Zeit üblich, hatte ihr Vater ja verhindert, dass Clara kochen, stricken, nähen und dergleichen lernte. Jetzt musste sie sich solche “typisch weiblichen“ Tätigkeiten in kürzester Zeit aneignen.

Und nicht nur das: Unterordnung stand auf der Agenda. Aus dem strahlenden Star wurde eine graue Maus mit sittsamem weißem Häubchen. Clara ging einkaufen, versuchte zu kochen, beaufsichtigte das Personal, bewirtete unentwegt Gäste, schleppte sogar die Weinflaschen aus dem Keller in die Wohnung. Später nähte sie Kleidung für ihre Kinder. Darüber hinaus war sie gleichsam die Außenministerin für ihren wortkargen, eher mürrischen Mann, der oft nur stumm mit seiner Weinflasche in der Ecke saß, wenn die Schumanns eine Soirée gaben.

Was bedeutete das für Clara als Künstlerin?

Den absoluten Offenbarungseid. Robert verbot ihr, Klavier zu üben, weil es ihn in der hellhörigen Wohnung beim Komponieren störte. Umgekehrt hatte sie ihm jederzeit zu Diensten zu sein. Hingebungsvoll linierte sie sein Notenpapier, sah seine Kompositionen durch, beriet ihn, pamperte ihn, wenn er Blockaden oder seelische Verschattungen hatte. Meist beides. In vielen Biografien werden die ersten Ehejahre in summa als sehr glücklich geschildert. Das Gegenteil ist der Fall. Als Person und Künstlerin verschwand Clara bald unter den vielen Pflichten. Im Gegenzug wurde sie depressiv bis zur Autoaggression, traute sich weder kompositorisch noch als Pianistin etwas zu, hatte sogar Angst, in Gegenwart illustrer Gäste Klavier zu spielen.

Es fordert ihr ungeheure mentale und emotionale Anstrengungen ab, sich aus dieser Situation zu befreien. Zur Schlüsselerfahrung wurde eine Konzertreise nach Kopenhagen, ohne Robert: endlich wieder umjubelt und in eleganten Salons herumgereicht werden, endlich wieder Bälle und charmante Verehrer statt eintöniger Haushaltspflichten. Mehr davon! Interessanterweise spielte der ökonomische Aspekt eine kardinale Rolle. Da sie das Geld nach Hause brachte, hatte sie ein unschlagbares Argument, Mann, Kinder und Haushalt hinter sich zu lassen, um wieder das zu tun, was sie am meisten liebte: auftreten und im Applaus des Publikums baden.

Was für eine Mutter war Clara Schumann?

Es wäre unfair und auch ahistorisch, Claras Mutterrolle allein nach heutigen Maßstäben zu bewerten. Wir wissen mittlerweile so viel mehr über frühkindliche Prägungen und die Rolle starker Bindungen für die Entwicklung eines Kindes. Außerdem muss man Clara zugutehalten, dass gleich zwei Hypotheken auf ihr lasteten. Weil ihr mütterliche Wärme und Liebe gefehlt habe, sei sie nie ganz glücklich gewesen, bekannte sie einmal. Die Beziehung zum Vater war zwar lange eng, aber geschäftsmäßig kalt. Mit anderen Worten: Elterliche Liebe im Sinne von Wärme und Zärtlichkeit hatte Clara nie erlebt. So konnte sie auch wenig geben, als sie selbst Mutter wurde.

Ohnehin war das Thema Kinder angstbesetzt. Völlig zu Recht fürchtete Clara bereits vor ihrer ersten Schwangerschaft, ein Kind werde sie endgültig ans Haus fesseln. Insgesamt zehnmal war sie in unfroher Hoffnung, sieben Kinder überlebten das Kleinkindalter. Ihre beiden Fehlgeburten, auch das belege ich, führte sie sehr wahrscheinlich direkt oder indirekt herbei; sie ereigneten sich im Abstand einiger Jahre jeweils, nachdem Clara abwechselnd kalte Bäder in der Nordsee und heiße Bäder im Kurhaus genommen hatte.

Fanden Sie das schockierend?

Nein, sehr menschlich. Clara war völlig überfordert, vertraute aber nur ihrer Schwägerin Pauline und ihrer Freundin Emilie List an, sie sei zu erschöpft, um noch mehr Kinder zu bekommen. Auch finanziell klemmte es, weil Ammen, Kleidung und Verpflegung immer größere Summen verschlangen. Karrieretechnisch empfand Clara ihre vielen Kinder ohnehin als Ballast. Heute sprechen wir von “Regretting Motherhood“. Damit sind Frauen gemeint, die ihre Mutterschaft bereuen, weil Kinder gar nicht zu ihren Lebenszielen passen, zusammengefasst in dem Seufzer: Ich will mein altes Leben zurück!

Claras Lösung hieß Loslösung. Zunehmend kümmerten sich Kindermädchen um den Nachwuchs, nennenswerte emotionale Bindungen baut sie allenfalls zu ihren beiden ältesten Töchtern auf. Ganz anders übrigens als Robert, der zumindest zeitweise eine warme Zugewandtheit zeigte. Er führte ein gesondertes Tagebuch für seine Kinder, komponierte kleine Klavierstücke für sie, las ihnen vor, spielte mit ihnen. Clara sah nur zu.

Ihre innere Distanz wurde eindringlich nach Roberts Tod offenbar. Statt den vaterlosen Kindern Trost durch familiären Zusammenhalt zu spenden, entschied Clara, sie in alle Winde zu zerstreuen. Sie verteilte die Kinder auf Pensionate, Pflegefamilien und eine Wohnung nebst Gouvernante in Berlin. Unzählige Briefe schrieb sie ihnen, sprach von Sehnsucht und Verzicht, weil sie ja so viel arbeiten müsse. In Wahrheit kurte sie lieber in der Schweiz oder verbrachte wochenlange Ferien bei Freunden, als ihre Kinder zu besuchen. Care-Arbeit bestand für sie hauptsächlich darin, finanziell für ihre Kinder zu sorgen. Erst als zwei ihrer erwachsenen Töchter als Assistentinnen und Hausmädchen dienen konnten, lebte sie mit ihnen unter einem Dach.

Würde das Leben einer Clara Schumann heute anders verlaufen? Was hat sich nicht geändert?

Um gleich beim Thema zu bleiben: Die modernen Empfängnisverhütungsmethoden wären ein Segen für Clara gewesen. Weder war sie auf ein Dasein als treusorgende Mutter vorbereitet, noch passte eine große Kinderschar in ihr Lebenskonzept. Es hätten viel Stress und viel Leid verhindert werden können, wenn Clara nicht unablässig schwanger geworden wäre. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist natürlich, dass sie sich heute nicht mehr dafür rechtfertigen müsste, als verheiratete Frau berufstätig zu sein. Damals war das nur in den unteren Ständen üblich, im Bürgertum ein No-Go. Auch der Beruf einer Musikerin ist heute nichts Ungewöhnliches mehr. Zu Claras Zeit hatte das noch einen gewissen Haut-Gout, weil man Instrumentalistinnen und Sängerinnen in einer moralisch zweifelhaften Bohème verortete.

Eine spannende Frage ist, ob sie heute vorrangig als Komponistin in Erscheinung getreten wäre. Denn anders als etwa ihre Zeitgenossin Emilie Mayer, die aus einer wohlhabenden Familie stammte, musste Clara eine große Familie ernähren und hielt lange ihrem Mann den Rücken frei – während Emilie Mayer in aller Ruhe bei namhaften Kompositionslehrern studierte und sich anschließend ganz auf die kompositorische Arbeit fokussieren konnte. Clara war dieser Weg verwehrt. Dass man ihr Oeuvre heute allerdings im Konzertsaal hören könnte, muss stark bezweifelt werden. Werke von Komponistinnen machen gegenwärtig nur knapp zwei Prozent der Programme deutscher Berufsorchester aus. Eine beschämende Quote.

Leider muss man ergänzen, dass Frauen auch im 21. Jahrhundert immer noch vor ähnlichen Problemen stehen wie Clara. Nach wie vor kostet es immense Energie, sich in typisch männlichen Domänen einen Platz am Tisch zu erarbeiten. Nach wie vor scheitern auch viele berufliche Karrieren daran, dass die Kindererziehung meist den Müttern obliegt und adäquate Betreuungsplätze häufig nicht zur Verfügung stehen. Die im weltweiten Vergleich extrem hohe weibliche Teilzeitarbeitsquote hierzulande spricht für sich. Im besten Falle starten Frauen durch, wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind. Doch auch die Pflege alter Eltern hält viele Frauen in Atem. Dreiviertel alle Pflegebedürftigen in Deutschland werden von Angehörigen gepflegt, überwiegend von Frauen. Wenn da überhaupt gearbeitet werden kann, dann in Teilzeit. Multitasking war und bleibt eine Herausforderung für Frauen.

War Clara Schumann eigentlich eine Rebellin ihrer Zeit?

Sie selbst hätte sich vermutlich nicht so gesehen. Eher als Pionierin eines Künstlertums, bei dem es nicht mehr darauf ankommt, ob eine Frau oder ein Mann auf der Bühne steht. Das war für viele Zeitgenossen irritierend. Man warf ihr mangelnde Eleganz, sogar mangelnde Weiblichkeit vor. Über solch wenig schmeichelhaften Urteile ging sie nonchalant hinweg. Wichtiger war ihr, umfassend künstlerisch aktiv zu sein, und zwar sehr sichtbar. Als erste Frau in Deutschland erhielt sie eine Klavierprofessur. Damals war das ein wirklich einmaliger Vorgang, der natürlich auch andere Frauen beflügelte. Darüber hinaus etablierte Clara das noch unbekannte Berufsbild einer „seriösen“ Künstlerin, da sie nicht – wie viele Sängerinnen und Instrumentalistinnen - der Bohème, sondern dem Bürgertum angehörte und darauf achtete, ein sozial angesehenes Leben zu führen.

Sie schreiben, dass Clara Schumann für sich entschieden hatte, dass nicht etwa ein Mann der verlässlichste Partner fürs Leben sei, sondern der Beruf. Inwieweit könnten sich Frauen von heute daran ein Beispiel nehmen?

Es ist beklemmend, das sagen zu müssen, aber eine Paarbeziehung ist immer noch einer der größten Fallstricke für Frauen mit beruflichen Ambitionen. Also Augen auf bei der Partnerwahl, denn so mancher Traummann entpuppt sich nach der Heirat als altmodischer Patriarch. Neben einseitig verteilten Haushaltspflichten ist dann – siehe oben – vor allem die Familienarbeit eine Fessel, von der man sich nur schwer befreien kann. Problematisch ist, dass sich viele Frauen immer noch auf eine lebenslange Partnerschaft und damit Versorgungsgemeinschaft einstellen. Vulgo auf finanzielle Abhängigkeit. Was aber, wenn die Ehe zerbricht? Oder der Mann stirbt?

Für Clara stellten sich solche Fragen gar nicht. Sie war es von Kindheit an gewohnt, verlässlich Geld zu verdienen. Weniger verlässlich waren die Männer ihres Lebens. Der Vater kehrte ihr den Rücken und verweigerte die Auszahlung ihres Vermögens, als sie sich mit dem missliebigen Robert einließ. Robert wiederum war als Ehemann eine Enttäuschung, als Ernährer eine Katastrophe und karrieretechnisch lange ein Verhinderer. Für Brahms mochte sie sich nicht entscheiden, weil er Kritik anmeldete, dass sie andauernd Konzertreisen unternahm, statt für ihre Kinder da zu sein. Als sie sich dann mit Mitte Vierzig in den Komponisten Theodor Kirchner verliebte, musste sie feststellen, dass er spielsüchtig war und sie finanziell ausnutzte.

Die Pointe besteht darin, dass Clara – pragmatisch gesehen - keinen Mann an ihrer Seite brauchte: weder einen schützenden Gatten noch einen mächtigen Impresario. Von Anfang an basierte ihre Existenz darauf, dass sie sich auf sich selbst verließ. Daraus kann man auch für heute drei Schlussfolgerungen ziehen: Erstens braucht frau eine gute Ausbildung, zweitens prinzipielle finanzielle Unabhängigkeit, drittens eine hohe Frustrationstoleranz, was gesellschaftlichen Gegenwind betrifft. Vielleicht klappt’s dann ja auch mit Beruf plus Partnerschaft.

Und last but not least: Was würde Clara Schumann wohl über Ihr Buch CLARA sagen?

Ganz bestimmt würde sie sich über die Anerkennung freuen, die ich ihrer Lebensleistung zolle. Vermutlich wäre es auch eine Genugtuung für sie, dass ich sie ohne Wenn und Aber als Komponistin würdige. Auf der anderen Seite nähme sie sicherlich Anstoß an manch unbequemer Wahrheit. Sie, die immer so ängstlich darauf bedacht war, bloß nichts Negatives in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, hätte die Schattenseiten ihrer Biografie wohl nur ungern zwischen zwei Buchdeckeln gesehen.

Mehr als vier Jahre lang habe ich akribische Quellenstudien betrieben und war verwundert, wie viele ungehobene Schätze es noch gab. Um solch einer Ausnahmekünstlerin gerecht zu werden, darf man dann nichts schönen, nichts mit falscher Harmonie zuspachteln. Vielmehr war es meine Ambition, Clara jenseits von Mythen und Mutmaßungen wahrheitsgetreu zu portraitieren. Welchem männlichen Künstler, der Großes geleistet hat, würde man schon seine Ecken und Kanten vorwerfen? Clara Schumann ist eine faszinierende Frau, gerade wegen ihrer Ecken und Kanten. Die LeserInnen können mit einigen Überraschungen rechnen.

Danke für das Gespräch, sehr geehrte Frau Dr. Eichel.