Liebe Hanna, kannst Du Dich kurz vorstellen?
Ich bin Hanna Heikenwälder, 38 Jahre alt und habe Molekularbiologie studiert. Danach habe ich über das Zusammenspiel von Entzündungen und Krebs promoviert. Später habe ich auch noch ein paar Semester Medizin in Heidelberg studiert, um meine Kenntnisse über die menschliche Anatomie zu verbessern. Mittlerweile arbeite ich an der Universität Tübingen an der Entwicklung von neuen Forschungsprojekten zum Thema Altern und Krebs, nicht zuletzt mit dem Ziel, dass neue Forschungsergebnisse so schnell wie möglich Einzug in die Praxis finden. Und ich schreibe Bücher, weil ich es einfach nicht ertragen kann, wie viel faszinierendes und lebenswichtiges Wissen es gibt, das überhaupt nicht bei den Menschen ankommt, die eigentlich von diesem wichtigen Wissen profitieren könnten, darin Trost oder sogar so etwas wie Inspiration oder Freude finden könnten. Und das Wichtigste zum Schluss: Ich habe vier wunderbare Kinder im Alter von vier bis neun Jahren, die mir mit ihrer Lebensfreude täglich klar machen, wofür wir eigentlich arbeiten.
Um was geht es in Deinem Buch „Krebs – Das Ende einer Angst“?
Um Krebs natürlich – oder genauer gesagt: Wie wir ihm so schnell wie möglich ein Ende bereiten. Die meisten Menschen fürchten Krebs mehr als jede andere Krankheit. Aber es ist nicht nur die Angst vor Krebs oder vor dem Sterben, sondern auch die Angst vor dem, was Krebstherapien wie Chemo und Bestrahlungen in unserem Körper anrichten. Viel zu oft ist der Kampf vergebens und trotzdem müssen wir diese furchtbaren Nebenwirkungen durchleiden. Um Krebs in den Griff zu bekommen, müssen wir vollkommen anders an die Sache herangehen als bisher. Wir wissen inzwischen sogar, wie dieser Ansatz gelingen kann. Tatsächlich scheitert es gar nicht mehr so sehr an dem „Wie“, sondern vielmehr an der Umsetzung. Dabei geht es aber gar nicht darum, Krebs völlig aus der Welt zu schaffen, denn das wird aufgrund seiner Natur vielleicht niemals möglich sein. Vielmehr geht es darum, seine Entstehung so sehr zu verlangsamen, dass er im Laufe des Lebens nicht mehr als unheilbare Erkrankung in Erscheinung tritt. Und es geht darum, ihn frühzeitiger zu diagnostizieren und besser – das heißt vor allem „gezielter“ – zu behandeln. Das oberste Ziel ist, dass niemand mehr an Krebs sterben und Qualen leiden muss. Wenn dieses Ziel erreicht ist, haben wir Krebs seinen Schrecken genommen. Das Ziel lautet: Das Ende der Angst vor Krebs.
Was ist Krebs eigentlich?
In den letzten Jahrzehnten hat sich unser Bild von Krebs fundamental gewandelt. Allerdings nur in der Wissenschaft. Nur etwa 5–10% aller Krebserkrankungen entstehen durch angeborene Gendefekte. Die restlichen 90–95% aller Krebserkrankungen entstehen durch genetische Veränderungen, die wir erst im Laufe unseres Lebens erwerben. Dabei spielen klassische Karzinogene, wie chemische Substanzen oder angebrannte Speisen, eine viel geringere Rolle als lange Zeit angenommen. Viel wichtiger als chemische Substanzen, die unsere DNA schädigen, sind „krebsfördernde“ Einflüsse, die unsere DNA nicht angreifen, aber das Überleben und Wachstum von Zellen mit genetischen Schäden erleichtern. Dabei könnten wir Krebsvorstufen schon sehr früh ihren „Nährboden“ entziehen und dadurch verhindern, dass sie sich im Laufe des Lebens überhaupt erst zu Krebszellen entwickeln.
Vielen ist nicht bewusst, wie groß ihr eigener Handlungsspielraum in Wahrheit ist. Das liegt aber sicherlich auch an den vielen widersprüchlichen und unseriösen Informationen, die im Netz kursieren und mit denen sogenannte Wunderheiler Profit machen wollen. Dabei sind die effizientesten Methoden zur Krebsprävention völlig kostenlos.
Welche sind Deine wichtigsten Ratschläge, um eine Krebserkrankung zu verhindern?
1. Ein gesundes Körpergewicht und vor allem regelmäßige Essenspausen einhalten – insbesondere nachts
2. Täglicher Sport oder andere körperliche Bewegung
3. Industrielle Nahrungsmittel, Industriezucker, Alkohol und Zigaretten meiden
4. An Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen
Du beschreibst Krebs als latenten Prozess im Körper jedes Menschen – ab wann wird dieser Prozess zur Krankheit?
Größere und langlebige Tiere haben im Laufe der Evolution geniale Mechanismen entwickelt, die sie vor Krebserkrankungen schützen. Ein Tumor kann erst dann bösartig werden und sich unkontrolliert in unserem Körper ausbreiten, wenn es ihm gelungen ist, all diese Schutzmechanismen durch bösartige genetische Veränderungen zu umgehen.
Man kann sich diese Schutzmechanismen am besten als ein mehrschichtiges Sicherheitsnetz vorstellen. Das letzte und wichtigste dieser Netze ist unser eigenes Immunsystem – und gerade das können wir durch unsere Lebensweise sehr stark beeinflussen. Auch viele moderne Krebstherapien versuchen das Immunsystem wieder auf Krebszellen zu richten – und das mit sehr großem Erfolg.
…und was hat Krebs mit dem Alterungsprozess bzw. Anti-Aging zu tun?
Sehr viel. Denn Altern ist genau genommen ein Schutzmechanismus vor Krebs. Wenn es in einer unserer Zellen zu einem genetischen Schaden kommt und alle Reparaturversuche scheitern, wird diese Zelle normalerweise aussortiert. Sie geht dann in eine Art „Altersruhestand“ und kann sich nicht mehr vermehren. Im Alter nimmt die Menge dieser „pensionierten“ Zellen in unserem Körper immer mehr zu. Das ist auch der Grund, warum das Regenerationspotential unserer Gewebe im Alter nachlässt und wir schlaffe Haut, graue Haare oder Falten bekommen. Wenn es diesen Mechanismus nicht gäbe, würden wir zwar nicht altern, aber dafür schon sehr viel früher an Krebs erkranken. Aber im Alter nimmt auch das Krebsrisiko deutlich zu, denn wenn dieser Wachstumsstop geschädigter Zellen versagt (z.B. durch weitere spontane genetische Veränderungen), können diese Zellen trotz schwerer genetischer Schäden weiterwachsen und einen Tumor bilden.
Wir altern also so erstaunlich lange vor uns hin, damit wir noch ein bisschen länger krebsfrei leben können. Gleichzeitig heißt das aber auch, dass wir durch eine Lebensweise, die die Krebsentstehung verlangsamt auch unser Leben verlängern und auch länger gesund und fit bleiben.
In Deinem Buch schreibst Du, wir könnten die Anzahl der Krebstodesfälle schon heute signifikant senken. Wie wäre das machbar?
Die Hälfte aller Krebsfälle könnte schon heute verhindert werden, wenn der aktuelle Wissensstand richtig umgesetzt werden würde. Keine einzige neue Therapie und kein einziges neues Diagnoseverfahren wären dafür notwendig. In Zukunft werden wir die Zahl der Krebserkrankungen auch dadurch deutlich senken, dass wir die Früherkennung verbessern und lernen, woran wir bösartige Krebsvorstufen von gutartigen unterscheiden. Dabei werden uns Machine-Learning Algorithmen eine große Hilfe sein, denn sie sind extrem gut darin, Muster in bildlichen Daten zu erkennen, die unserem menschlichen Auge und Verstand verborgen bleiben – das haben Studien inzwischen eindrücklich bewiesen, beispielsweise bei Hautkrebs. Eine KI, die an einer großen Menge von Bildern und Patientendaten trainiert wurde, kann Hautkrebs-Vorstufen mittlerweile besser diagnostizieren als ein Hautarzt. Hier ist das Potential auch für andere bildgebende Verfahren (z.B. die Mammographie) extrem groß. Bei der Therapie von Krebserkrankungen werden die personalisierte Medizin und insbesondere die Immuntherapie in Kombination mit gezielten Wirkstoffen die größten Durchbrüche ermöglichen.
Welche Impfungen gegen Krebs empfiehlst Du?
Aktuell zugelassen und unbedingt zu empfehlen ist die HPV-Impfung gegen Humane Papillomaviren (HPV) zum Schutz vor Gebärmutterhalskrebs und die Hepatitis-Impfung gegen Leberkrebs durch Hepatitis-Viren. Weltweit sind Infektionen für etwa 20 Prozent aller Krebsfälle verantwortlich und allein mit diesen beiden Impfungen könnten weltweit 1 Million Krebsfälle pro Jahr verhindert werden. Das ist alarmierend. Und HPV verursacht bei weitem nicht nur Gebärmutterhalskrebs, sondern auch Penis-, Anal- und Scheidenkrebs, sowie Krebs im Mund- und Rachenraum.
Die heiß diskutierten neuen mRNA-Impfungen gegen Krebs sind hingegen nicht prophylaktisch gedacht, sondern kommen erst bei einer manifesten Krebserkrankung zum Einsatz. Sie fallen in den Bereich der „personalisierten“ Krebsmedizin. Sie sollen künftig zur Therapie von bereits existierenden Krebserkrankungen dienen, in dem sie das Immunsystem des Patienten auf die mutierten Proteine von Krebszellen richten. Weil die Krebszellen und ihre Mutationen von Patient zu Patient verschieden sind, müssen diese Impfung für jeden Krebspatienten maßgeschneidert werden.
Was macht Dir Hoffnung für die Zukunft der Krebsprävention?
Tatsächlich die Kampagnen gegen das Rauchen. Innerhalb weniger Jahre ist es gelungen, durch eine Kombination aus Werbeverboten, Tabaksteuern und Rauchverboten an öffentlichen Plätzen die Zahl der Lungenkrebsfälle drastisch zu reduzieren. Ich habe meinen Kindern neulich einen alten Marlboro-Werbespot auf YouTube gezeigt. Sie haben sich kaputtgelacht. Weil sie nicht glauben konnten, dass Rauchen einmal „cool“ war. Ich finde, das ist der beste Beweis, dass dies auch mit Zucker oder anderen ungesunden Lebensmitteln funktionieren könnte. Auch Rauchen ist heute noch erlaubt und ich finde das gut, denn immerhin sind wir freie Menschen. Aber jeder, der heute raucht, weiß zumindest, dass es ungesund ist. Von diesem Zustand einer „aufgeklärten Freiheit“ sind wir in der Ernährung, einem der wichtigsten Kontributoren der Krebsentstehung, noch meilenweit entfernt. Immerhin gehen Studien davon aus, dass bis zu 35% aller Krebsfälle das Resultat von falscher Ernährung sind.
Und last but not least: Was wünschst Du Dir für die Gesundheit unserer Gesellschaft?
Ein neues Schulfach namens „Gesundheit“. Denn ich finde wichtig, dass Kinder lernen, wie man auf sich und seinen Körper Acht gibt und wie man ihn vor Krankheiten schützt. Und vor allem sollten Kinder lernen, wo man Hilfe finden kann, wenn es einem körperlich oder seelisch nicht gut geht. Ideal wären in diesem Zusammenhang sogenannte „Schulkrankenschwestern“ – oder anders betitelte Gesundheitsexperten an Schulen, die auch männlich sein können –, die Kinder bei der „Selbstfürsorge“ unterstützen und sie bei Bedarf an weitere Experten wie Ärzte, Psychologen oder Ernährungsberater vermitteln. Prävention muss dort ansetzen, wo sie noch die größten Chancen auf Erfolg hat – das heißt: So früh wie möglich! Und wo wir noch jeden Menschen in unserer Gesellschaft erreichen, unabhängig von seiner Herkunft und seinen finanziellen Möglichkeiten. Das würde ich mir wirklich wünschen.